Wie geht Deutschland? Vom Neuling zum Politik-Insider mit dem JMD
Melani, Ahmad und Majd haben sich gut vorbereitet. Sechs Tage lang haben sie in den Osterferien recherchiert, Präsentationen vorbereitet und Fragen über Fragen geklärt. Trotzdem kommen jetzt, während sie mit einem Dutzend anderer Jugendlicher im Bus durch Berlin reisen, immer neue Fragen auf. Kein Wunder: Zu ihren Stationen gehören der Bundestag und der Bundesrat, der ehemalige Preußische Landtag und die Holocaust-Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz. Zwischendurch folgen sie wie einem roten Faden immer wieder den Pflastersteinen, die den Verlauf der Berliner Mauer markieren. Es ist eine Reise quer durch die Geschichte eines Landes, in dem die meisten erst seit ein paar Jahren leben.
Die jungen Leute aus Syrien, dem Irak und Bulgarien sind Teil einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern aus Gelsenkirchen, die auf Einladung der Bundestagsabgeordneten Dr. Irene Mihalic (Grüne) zwei Tage lang die deutsche Hauptstadt besuchen. Rund um das Angebot der Bundespressekonferenz, die solche Fahrten regelmäßig organisiert, haben Mitarbeiterinnen des Jugendmigrationsdienstes (JMD) ein Bildungsprojekt für junge Migrantinnen und Migranten konzipiert. Sie stießen auf großes Interesse bei den meist 18- bis 20-Jährigen. „Uns interessiert das, weil wir in Deutschland leben“, erklärt Melani, 18, aus Bulgarien. „Wir wollen wissen: Wieso ist diese Mauer so wichtig? Was bedeutet der Tag der Deutschen Einheit? Damit wir auch mitfeiern können zum Beispiel. Genauso wie ich die Geschichte meines Landes kenne, will ich auch die deutsche Geschichte kennen.“
Schwierige Vokabeln aus der Politikwelt halten die Jugendlichen nicht davon ab, aufmerksam zuzuhören - hier im Berliner Abgeordnetenhaus.
Mit der Parlamentarierin über „Fridays for Future“ sprechen
Melani und die anderen haben schon an vielen Projekten des JMD teilgenommen. 2018 drehten sie einen Kurzfilm über die fünf Weltreligionen. In und um Gelsenkirchen besichtigten sie eine Kirche, eine Synagoge, eine Moschee und sogar einen hinduistischen Tempel. Dazu hielten sie Vorträge über die verschiedenen Glaubensrichtungen. Demokratie stand im Vordergrund eines weiteren Projekts. Dieses führte eine Gruppe Jugendlicher in den Düsseldorfer Landtag. Dort tauschten sie sich mit dem SPD-Abgeordneten Markus Töns aus, der heute im Bundestag sitzt. Die jungen Zugewanderten, die sich am Programm des Jugendmigrationsdienstes beteiligen, haben ihren Altersgenossen einiges voraus: Viele hier Aufgewachsene haben noch nie ein Parlament betreten oder mit einer Abgeordneten gesprochen. Beim Gespräch im Berliner Bundestag nutzt der 20-jährige Majd aus Syrien dann auch die Gelegenheit: Was sie von der Bewegung „Fridays for Future“ hält, möchte er von Irene Mihalic wissen. Und: „Wenn Sie die Chance hätten, zwei Dinge in Gelsenkirchen zu ändern, was würden Sie tun?“
Anna Dschaak vom JMD Gelsenkirchen freut sich über die Neugier der Jugendlichen. „Integration bedeutet auch soziale Teilhabe, und die fängt unter anderem mit politischem Wissen an: Wie funktioniert dieses Land? Worüber muss ich Bescheid wissen, damit ich öffentliche Diskussionen verstehe?“ Dazu sei auch ein Grundwissen der deutschen Geschichte wichtig, erklärt ihre Kollegin Meryem Üstebay. „Was war der Nationalsozialismus? Oder auch: Warum gibt es so viele Türken in Deutschland?“ Die Sozialarbeiterinnen wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern die jungen Erwachsenen auf das Berufsleben vorbereiten und ihre Persönlichkeit stärken. Ihr Deutsch wird flüssiger, sie lernen, selbstständig zu recherchieren, vor Publikum zu sprechen und eine Präsentation am Computer zu erstellen – aber auch, konstruktive Kritik zu üben und anzunehmen. Die JMD-Mitarbeiterinnen begleiten einige der jungen Frauen und Männer seit mehreren Jahren. „Die Jugendlichen haben eine immense Entwicklung durchgemacht – sprachlich, aber auch persönlich“, berichtet Üstebay und Dschaak bestätigt: „Sie haben an Selbstsicherheit gewonnen, das merkt man vor allem in den Projekten.“ Man sehe ihnen an, wie stolz sie sind, wenn sie beispielsweise einen gelungenen Vortrag gehalten haben, erzählt Gülistan Durmuş, die die Gruppe ebenfalls seit Längerem im JMD begleitet. Dieser bietet außerdem Beratung und intensive Einzelfallbegleitung an, um beim Übergang Schule/Ausbildung/Beruf zu unterstützen.
Auf der Reise und in der Vorbereitung verbessern die Jugendlichen ihr Deutsch, haben Spaß und gewinnen an Selbstsicherheit.
„Egal was passiert, ich gehe zuerst zum JMD“
Vom Angebot des JMD erfahren die meisten über Bekannte. Wer dann einmal da war, kommt häufig wieder. Melani lebt seit drei Jahren mit ihrer Mutter in Deutschland und ist irgendwann zum JMD gekommen, weil sie Hilfe mit ihren Dokumenten brauchte. Sie erhielt nicht nur Unterstützung, sondern fand auch Freunde und einen Rückzugsort. Der 18-jährige Ahmad aus Syrien wollte zunächst vor allem sein Deutsch verbessern. „Dann hatte ich immer Lust, hinzugehen. Ich fühle mich wie in einer Familie.“ Die Beziehung zwischen Mitarbeiterinnen und Jugendlichen ist vertraut: „Mama Meryem“ nennen einige Mädchen im Scherz ihre Betreuerin. Wenn der Schuh drückt, gibt die auch mal Tipps gegen Liebeskummer oder bei Problemen zu Hause. Denn nicht alle haben das Glück von Ahmad, der mit seinem älteren Bruder und beiden Eltern in Gelsenkirchen wohnt. Die Mutter von Majd beispielsweise lebt in Syrien. „Egal was passiert, ich gehe zuerst zum JMD. Sie sind wie Schwestern da. Man fühlt sich nicht allein, es gibt jemand hinter mir, der mir hilft.“
Bei aller Nähe legen die beiden Sozialarbeiterinnen, selbst erst Anfang 30, Wert auf professionelle Distanz. Doch sie begegnen den Jugendlichen auf Augenhöhe und geben bewusst auch mal persönliche Erfahrungen preis. „Vielen tut es gut, zu sehen: Meryem, die in Deutschland groß geworden ist, hatte vielleicht auch mal Probleme mit der deutschen Sprache oder in der Schule“, sagt Üstebay. Bei der Arbeit hilft beiden auch ihr eigener Migrationshintergrund. Dschaak ist Russlanddeutsche und seit langem in der migrantischen Selbstorganisation engagiert. Viele der Jugendlichen, die sie begleitet, stammen aus einem anderen Kulturkreis. Trotzdem profitiert sie im Umgang mit den jungen Migrantinnen und Migranten von ihrer interkulturellen Kompetenz. Üstebay, deren Eltern aus der Türkei stammen, will die Jugendlichen ermutigen, auch angesichts von Widerständen nicht aufzugeben. „Auch wenn man mal schlechte Erfahrungen macht, kann man es trotzdem schaffen in Deutschland. Es gibt so viele Möglichkeiten.“
Blicke hinter die Kulissen – auch beim Jugendmigrationsdienst
Wenn sie sich nicht gerade mit der deutschen Zeitgeschichte beschäftigen, haben die Jugendlichen ihren Blick fest auf die eigene Zukunft gerichtet. Viele stehen kurz vor dem Realschulabschluss und suchen einen Ausbildungsplatz. Dabei unterstützen sie die JMD-Mitarbeiterinnen, zum Beispiel mit Bewerbungstrainings. In Berlin können sich Dschaak und Üstebay mit einer der jungen Frauen über gute Nachrichten freuen: Ab September fängt sie eine Ausbildung als Altenpflegerin an. Einige sammeln schon Berufserfahrungen. Ahmad macht drei Tage pro Woche ein Praktikum in einer Praxis für Physiotherapie, an zwei Tagen besucht er das Berufskolleg. Auch Melani wird sich bald für eine Ausbildung bewerben. Lieber würde sie zwar erst ihr Fachabitur machen – doch ihr Aufenthaltsstatus erlaubt das nicht. Majds großer Traum ist es, Pilot zu werden. Nächstes Jahr macht er Abitur, dann wird er sich bewerben. „Wenn das nicht klappt, möchte ich Soziale Arbeit studieren. Ich mag es, Menschen zu helfen.“ Für seinen Plan B qualifizieren ihn nicht nur seine Sprachkenntnisse in Arabisch, Deutsch und Englisch. Seit kurzem erhält er praktische Einblicke in das Berufsfeld – als Praktikant beim Jugendmigrationsdienst.
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Text und Bilder: Servicebüro Jugendmigrationsdienste