Von Libyen nach Lippstadt
„Wir leisten Beziehungsarbeit und bauen eine Vertrauensebene auf, in der sich die jungen Menschen trauen, ihre Erlebnisse auf unterschiedliche Art auszudrücken“, erklärt JMD-Beraterin Bea Geisen. Wie sehr dieses Statement im JMD Lippstadt stimmt, zeigt sich am Fall von Mouhamad und Abdu Belal. Die 20 und 21 Jahre alten Brüder kamen aus Libyen nach Deutschland zum JMD.
Als der arabische Frühling nicht die ersehnte Freiheit für das libysche Volk, sondern einen verheerenden Bürgerkrieg mit wechselnden Fronten, gnadenlosen Söldnerheeren und ständiger Gefahr für die Zivilbevölkerung brachte, entschlossen sich die beiden Brüder zur Flucht. „Wir waren mit 500 anderen Menschen 17 Stunden lang auf einem Boot, dann hat uns die italienische Küstenwache gerettet“, berichtet Mouhamad. Von Süditalien fuhren sie nach Dortmund in eine Erstaufnahme-Einrichtung, von dort nach Lippstadt.
Die beiden Brüder kamen zum JMD und fassten hier schnell Vertrauen. Neben der Hilfe beim Suchen von Sprach- und Integrationskursen und bei der Anerkennung der Schulabschlüsse fanden die jungen Männer auch künstlerisch einen Weg, ihre Erlebnisse zu bearbeiten.
„Wir hätten eigentlich auch an einen anderen Ort ziehen können“, sagt Abdu, „aber wir wollten hierbleiben.“ Das hängt auch mit dem Engagement des Jugendmigrationsdienstes zusammen, denn auf die Frage, wer den beiden hier am meisten geholfen hat, kommt die Antwort ohne Zögern und mit einem riesigen Lächeln in Richtung der beiden Beraterinnen Bea Geisen und Gudrun Tack: „Der JMD in der AWO!“
Kontinuierliches Wachstum zwischen Ruhrgebiet und Hochsauerland
Sicher sind es diese Herzlichkeit oder die verbindliche Arbeitsweise ganz nah an den jungen Menschen, die den Jugendmigrationsdienst in Lippstadt so erfolgreich machen. Das Büro wurde schon 1989 – damals noch als Jugendgemeinschaftswerk – in der Arbeiterwohlfahrt AWO Lippstadt gegründet. 2019, wenn die AWO in der Stadt ihren 100. Geburtstag begeht, feiert der JMD gleich seinen 30. mit. Mit einem großen Einzugsgebiet betreut der JMD in Lippstadt und Soest zwischen dem Ruhrgebiet im Norden und dem Hochsauerland im Süden vor allem Menschen in insgesamt 14 Städten und ländlichen Gemeinden.
Das Portfolio des Lippstädter Jugendmigrationsdienstes unterscheidet sich nur unwesentlich von dem anderer JMD-Büros: Einzelfallbetreuung steht im Mittelpunkt, aber natürlich sind Sprachförderung, geschlechterspezifische Arbeit, Gruppenarbeit und das Netzwerken wichtige Bestandteile der täglichen Aktivitäten. „Wir sind seit knapp 30 Jahren im Geschäft – da kennt man die Akteure. Und Werbung müssen wir auch schon lange nicht mehr machen“, erklärt Bea Geisen.
„Die Öffnung unserer Arbeit auch für Geflüchtete haben wir ganz ausdrücklich begrüßt“ erzählt sie weiter. Neu sind inzwischen die Kriegserfahrungen, die die Jugendlichen jetzt zu den Gesprächen mitbringen. „Das kannten wir ja seit den Jugoslawien-Kriegen kaum noch.“ Ansonsten sind die Fragen, Wünsche, Anliegen der Geflüchteten ähnlich wie die der anderen Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Wie kann ich meine Ausbildung anerkennen lassen, wo finde ich Arbeit, wie kann ich die Sprache lernen, wie finde ich eine Wohnung, wie bekomme ich Kontakte zu Gleichaltrigen?
„Die Qualität unserer Arbeit hat sich verändert“, ergänzt Geisens Kollegin Gudrun Tack. Die Zeit ist knapper, und viele Einzelfälle gehen schneller unter die Haut, weil die Schicksale dramatischer sind. Familienzusammenführungen sind schwieriger geworden, Abschiebungen drohen – vieles aus der Alltagsarbeit ist existenzieller und damit auch belastender.
Migranten mischen mit – MMM
Für Mouhamed und Abdu sieht die Zukunft gut aus. Unglaublich schnell und mit riesigem Eifer lernen die Brüder Deutsch, denn sie haben ehrgeizige Ziele. Mouhamad möchte Informatiker werden, Abdu will Medizin studieren. Zunächst steht für beide eine einjährige Zeit in einem Studienkolleg an, das ihnen die nötige Anerkennung ihrer libyschen Abi-Zeugnisse bringen wird.
Die Freizeit verbringen die Brüder auch gern im JMD. Mouhamad hat sich selbst Streetdance beigebracht, was ihm hilft, seine Erlebnisse zu verarbeiten. „Ich bin in der ersten Zeit hier immer ins Einkaufszentrum gefahren, wo es kostenloses W-Lan gibt. Da habe ich mir Lehrvideos für Breakdance heruntergeladen und die dann immer und immer wieder nachgemacht.“ Diese Talent bringt er in das Projekt des JMDs „Flüchtlingen ein Gesicht geben“ ein. Inzwischen rührt der 20jährige mit seinen Tänzen zu Tränen.
Neben der Beratung sind dem JMD Lippstadt insbesondere auch Gruppenangebote zur Beteiligung von Jugendlichen sehr wichtig, die zwar schwerer zu finanzieren sind, dafür aber umwerfende Erfolge bringen. Das beweist der JMD sehr eindrucksvoll mit seinem Projekt „Migranten mischen mit“, kurz MMM (www.powerpolitik.de) genannt. 2006 gegründet, soll MMM als Plattform für politische und gesellschaftliche Teilhabe dienen. Schnell hat sich das Projekt zu einem Magneten entwickelt, der viel beachtete Aktionen hervorbrachte. Zum Beispiel eine Fahrt mit Jugendlichen nach Auschwitz. Der Besuch in der polnischen KZ-Gedenkstätte ist bis heute Gesprächsthema im Jugendmigrationsdienst.
Ein unschlagbares Team: Die beiden Brüder Abdu und Mouhamad (außen) neben den Beraterinnen des JMD Lippstadt Gudrun Tack und Bea Geisen.
Besonders erfolgreich ist auch die genannte Ausstellung „Flüchtlingen ein Gesicht geben“, an dem die Brüder Mouhamad und Abdu entscheidend mitwirkten. Mehr als 25 Geflüchtete wurden hierfür portraitiert. Aus den Interviews und den Fotografien entstand eine Ausstellung mit großformatigen Bildern und Zitaten – Fluchtgeschichten und Schicksale zum Anfassen. Für die Eröffnungsveranstaltung ließen sich die Organisatoren dann in Zusammenarbeit mit einer Theaterpädagogin eine Show einfallen, die bis heute zu einer viel beachteten Veranstaltung wuchs: Ein Jugendlicher liest seine eigene Fluchtgeschichte vor, ein junge Frau singt Lieder, Streetdancer tanzen – Besucherinnen und Besucher sind hingerissen zwischen Freude und Trauer. Emotionen pur sind immer dabei in dieser ebenso schönen wie berührenden Show. Zwei Preise erhielt sie bereits, einen vom Bündnis für Demokratie und Toleranz und den »Integrationspreis 2017«, ausgelobt vom GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen e.V. unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Darüber hinaus wurde die Gruppe nun nach Ungarn eingeladen, wo sie in einer Kleinstadt viel Aufmerksamkeit erregte – und entgegen allen Erwartungen sich den Respekt ursprünglich sehr kritischer Studenten erarbeitete. Inzwischen liegt sogar schon eine Einladung für zwei Veranstaltungen in Berlin vor.
Durch Tanz Kraft und Ausdauer schöpfen
Die Hartnäckigkeit von Mouhamad und Abdu im Künstlerischen und im Gestalten ihrer Zukunft beeindruckt die JMD-Beraterinnen. Und sie geben ihnen allen erdenklichen Rückhalt. Gemeinsam ist es ihnen gelungen, auch den Familienvater aus Libyen nach zu holen. Der lernt mit der gleichen Energie wie seine Söhne Deutsch. Sie alle sind angekommen in Deutschland. Was ihnen fehlt, ist die alte Heimat. „Freunde, Schule – irgendwie alles“, sagt Abdu, vermisst er – aber der Blick geht nach vorne.
Am Bahnhof von Lippstadt werden Besucherinnen und Besucher der Stadt mit einem fröhlichen „Herzlich Willkommen!“ empfangen. Auf hellen Milchglasscheiben steht der Gruß gleich in zehn Sprachen und mit verschiedenen Schriftzeichen bestens lesbar. Eine schöne Geste der Gemeinde – vielleicht eine gut erhaltene Sitte, weil Lippstadt als Knotenpunkt von wichtigen Verkehrsstraßen eine alte Handelsstadt ist. Man weiß mit Multikulti umzugehen.
Dieses Gefühl setzt sich kurz darauf auch im Büro des Jugendmigrationsdienstes fort. Leiterin Bea Geisen und Beraterin Gudrun Tack empfangen die Jugendlichen mit einem herzlichen „Hallo!“. Man fühlt sich hier schnell willkommen!
Weiterführende Links:
https://www.jugendmigrationsdienste.de/jmd/imkreissoest-aussenstellesoest
www.powerpolitik.de