Kulturdolmetscher und Orientierungshilfe im JMD Marburg
„Und wenn Sie uns nicht auf Anhieb finden, dann kann ich Sie auch am Parkplatz vom Landratsamt abholen, der ist hier gleich um die Ecke.“ Es hätte nicht viel gefehlt, und der Anrufer hätte das Angebot von JMD-Beraterin Verena Leowald annehmen müssen. Denn der Jugendmigrationsdienst Marburg ist nicht gerade leicht zu finden. Die kleine, enge Autozufahrt übersieht man schnell, doch die Jugendlichen, die sich hier beraten lassen, kennen das Haus des Trägers des Internationalen Bundes sehr gut. Hier hat der JMD nämlich zwei helle Büros und ein kleines Besprechungszimmer. Genug Platz für die zwei Beraterinnen Verena Leowald und Julia Sander und die jungen Menschen, die hier täglich ein und ausgehen.
Begonnen hat die Geschichte des Marburger JMD im Jahr 2005, als einige der Jugendwerke des Internationalen Bundes in den neu gegründeten Jugendmigrationsdienst überführt wurden. Verena Leowald war vom ersten Tag an dabei und kennt die Wirrungen, die das Beratungsbüro seither durchlebte. Als studierte Germanistin und Kunstgeschichtlerin hatte sie schon längere Zeit im Auftrag des IB im Zusammenhang mit Flüchtlingsthemen gearbeitet, zuletzt als Lehrerin. „Als Seiteneinsteigerin habe ich manchmal einen anderen Blick auf die Situationen der Jugendlichen, was mir bisher auch immer geholfen hat“, erklärt die sympathische Sozialberaterin mit dem schrägsitzenden japanischen Stäbchen im hoch gesteckten Haar.
Eine der Besonderheiten des Marburger JMD war von Beginn an, dass vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund, die bereits in Deutschland geboren worden sind, die Beratungsstelle aufsuchten. „Das hat sich einfach so entwickelt“, erklärt Verena Leowald und führt fort: „Bei Neuzugewanderten ist man ja eher eine Art Kulturdolmetscher, der erklärt, wie Deutschland tickt. Bei den hier Geborenen ist das oft anders. Die kennen das Land und seine Eigenheiten, aber sie haben ihren Weg noch nicht gefunden. Da muss man die jungen Menschen oft aus schwierigen Situationen lenken, bevor die eigentliche Orientierungsarbeit beginnen kann.“
Und alles bleibt anders
Bei den Aufgaben und in der Zusammensetzung der Zielgruppen des JMD hat sich seit Beginn seiner Arbeit vieles verschoben. Mittlerweile suchen hauptsächlich junge Geflüchtete die Beratungsstelle auf. Und die Zahl der Beratungen stieg seit 2014 um bis zu 100 Prozent.
Zunächst waren es vor allem gut ausgebildete Flüchtlinge mit dem festen Ziel in der renommierten Universitätsstadt Marburg zu studieren, die den JMD aufsuchten. Die Hürden für einen Studienbeginn sind allerdings – vor allem in sprachlicher Hinsicht – enorm schwer. Unterstützung erhält der JMD hier von der Bildungsberatung Garantiefonds Hochschule (GF-H), bei der sich die jungen Menschen über Studienvoraussetzungen, Stipendien, Intensivsprachkurse bis zum Niveau C1 und Eignungstests informieren können. „Wir hatten eine relativ hohe Abbrecherquote schon im Vorfeld, nämlich in den Sprachkursen. In vielen Programmen gibt es oftmals nur eine Chance für die Prüfung an der Uni“, seufzt Verena Leowald.
Und so fokussiert sich die Arbeit auf junge Menschen, die trotz akademischer Vorbildung einen Ausbildungsberuf erlernen wollen. „Das bedeutet jetzt vor allem Unterstützung bei Bewerbungen und der Ausbildungssuche“, lächelt die JMD-Beraterin.
Erfolgsmodell Tandem
Doch nicht nur der schulische und berufliche Teil des Lebens will organisiert sein. Das Leben überhaupt in Deutschland muss verstanden und sortiert werden. Deshalb hat der JMD gemeinsam mit der Freiwilligenagentur in Marburg ein System entwickelt, das sich als enormer Gewinn für die Jugendlichen des Jugendmigrationsdienstes erweist. Seit 2012 läuft das Projekt Tandem bereits erfolgreich. Einheimische Bürgerinnen und Bürger übernehmen eine Art Patenschaft für einen jugendlichen Geflüchteten. Mindestens einmal wöchentlich treffen sich die Tandempartner, sie sprechen miteinander und unternehmen gemeinsam etwas. „Das Herzstück der Idee sind Begegnungen. Sie können durch den Kontakt zu ihren Paten das Leben in Marburg besser und schneller kennenlernen. Hierfür muss eine Vertrauensbasis hergestellt werden. Die Geflüchteten sollen sich verstanden und sicher fühlen“, erklärt Verena Leowald. Wichtigster Partner ist übrigens die Universität – und die Studierenden sind auch gern gesehenen Partner, denn sie begegnen den oft gleichaltrigen jungen Flüchtlingen auf Augenhöhe.
Dran bleiben und nicht aufgeben
Ein Teilnehmer des Tandem-Projekts ist Mudher. Mit Anfang 20 kam er nach Marburg zum JMD und suchte Unterstützung in verschiedenen Bereichen. Der junge Mann im Rollstuhl war im Irak ein renommierter Journalist und Fernsehmoderator. Nach einer Parodie auf paramilitärische Einheiten, die sein Land überzogen, zog er grausame Aufmerksamkeit auf sich. Er geriet in einen Sprengstoffanschlag. Als die Bombe unter seinem Auto zündete, verloren sein Bruder und die Schwägerin ihr Leben, er selbst wurde schwer an den Beinen verletzt. Es gelang ihm nach Deutschland zu kommen, wo er zunächst vor allem ärztliche Hilfe erhielt. Seither hat Mudher mehrere Operationen hinter sich gebracht, doch gehen wird er wohl nie wieder können.
Im JMD wurde Mudher in das Tandemprojekt vermittelt, wo er neue Kontakte knüpfen konnte, die ihm halfen, sich in Marburg besser zurechtzufinden. Besonders beim Erlernen der deutschen Sprache war ihm das eine große Hilfe.
Nach den Operationen und den damit zusammenhängenden Krankheiten kann sich Mudher nun auf seine berufliche Zukunft konzentrieren, wobei ihm Verena Leowald ebenfalls zur Seite steht. Sie kennt sein Sprachtalent und die Begabung, auf Menschen zuzugehen. „Ich könnte ihn mir sehr, sehr gut als Pädagogen vorstellen“, sagt sie zwinkernd in seine Richtung. Er lächelt zurück, denn er weiß, sie könnte damit Recht haben. Doch auch ein Studium der Politik interessiert ihn sehr. „Vielleicht könnte die Tandem-Kooperation mit der Uni Marburg hier hilfreich sein“, überlegt er schmunzelnd.
Etwas anders liegt der Fall bei Mohamad. Der 25jährige Syrer lebt nach einer dramatischen Flucht aus Aleppo über die Türkei, Griechenland, Makedonien und Serbien seit einem Jahr in Deutschland. „Ich wollte schon immer genau hierher“, erzählt er. Und ebenfalls genau weiß er, dass er Chemielaborant werden möchte. Eine erstaunliche Entscheidung, denn in Syrien hatte der junge Mann als Schneider gearbeitet, sich mit 15 Jahren selbständig gemacht und zwei Geschäfte für Nachthemden geleitet. Nachthemden? Ja, und eine Fabrik dafür. Mohamad sagt das, als spreche er über eine andere Welt. Alles lief sehr gut, bis der Bombenterror zu übermächtig wurde, und er mit seinem 16jährigen Bruder die Flucht antrat. Sein Vater und vier Geschwister leben noch immer in Syrien.
Irgendwann, nach wenigen Tagen in Deutschland, hörte er von dem Beruf des Chemielaboranten. Seither hat er alles darüber aufgesogen, was er finden konnte. Er lernt Deutsch wie besessen, nimmt beim JMD am Marburger Tandemprogramm teil, er sieht viel fern und tut alles, um die Sprache so schnell und so gut wie möglich zu lernen. Mit Erfolg, denn ein Gespräch mit ihm ist kein Problem. Dennoch macht das System in Deutschland den Plänen des ehrgeizigen Flüchtlings immer wieder Probleme. Nach Willen des Jobcenters soll er eine Ausbildung als Krankenpfleger antreten – aber dagegen versucht er sich zu wehren. Hinter ihm steht Verena Leowald. Die JMD-Beraterin kennt seine Leidenschaft für die Chemie und unterstützt ihn mit allen erdenklichen Mitteln. „Es wäre doch eine Schande, wenn ein Mensch mit so konkreten und guten Zielen in eine andere Richtung gedrängt würde!“ Vieles kommt anders, als man denkt. Manchmal muss man hartnäckig an seinen Träumen arbeiten. Der Jugendmigrationsdienst hilft dabei.