Lebendig und vielfältig: Die Interkulturelle Woche 2020 in den Jugendmigrationsdiensten
Auf den ersten Blick wirkt es nicht so, als habe die Pandemie die diesjährigen JMD-Aktionen zur Interkulturellen Woche beeinflusst. Da gab es Theateraufführungen, Kunstausstellungen, Infostände und Netzwerktreffen. Ein lebendiges Programm, wenn auch mit beschränkter Teilnehmendenzahl und unter Hygienevorschriften. Doch nicht alles war möglich: Größere Konzerte oder Feste konnten nicht stattfinden. Viele der bundesweit rund 500 Jugendmigrationsdienste beteiligten sich trotzdem wie jeden Herbst an der dezentralen Aktionswoche, mit der Religionsgemeinschaften, Kommunen und Initiativen sich gegen Rassismus positionieren und auf die Vorzüge einer vielfältigen Gesellschaft aufmerksam machen.
Kunst ohne Grenzen
Das Gesicht spiegelt den Charakter wider: Die Iranerin Fereshteh Esmatibasharzad lotet mit ihrer fotorealistischen Kunst die Grenzen zwischen Zeichnung und Wirklichkeit aus. (Bild: JMD Gronau)
In Gronau besuchten zahlreiche Interessierte die Ausstellung von Fereshteh Esmatibasharzad. Die junge iranische Künstlerin hat schon als Kind das Zeichnen zu ihrem Hobby gemacht. Mit 25 Jahren hatte sie die Möglichkeit, für ein Jahr eine Kunstschule zu besuchen. Seither hat sie sich auf fotorealistische Kohlezeichnungen spezialisiert, die bevorzugt Menschen, Tiere oder Alltagsgegenstände zeigen. Am liebsten zeichnet Fereshteh Porträts, weil sie davon überzeugt ist, „dass das Gesicht einer Person viel über die Seele und den Charakter eines Menschen aussagt“. Die junge Frau lebt seit 2018 in Gronau. JMD-Mitarbeiterin Gordana Bernhardz erfuhr von ihrem Talent und organisierte die von einem Klavierkonzert begleitete Ausstellung unter dem Titel „Ohne Grenzen“.
Film als virtuelle Bühne
Zusammen wachsen und die eigene Persönlichkeit entwickeln: Die Afghanin Mitra Sabri erläutert im Film ihren persönlichen Bezug zum IKW-Motto.
Ebenfalls in Gronau entstand ein Film, in dem Bürgerinnen und Bürger über ihre Erfahrungen im interkulturellen Miteinander sprechen. Wie auf einer virtuellen Bühne wechseln sich Interviews mit Musikstücken, Tanzaufführungen und Fotoberichten örtlicher Kulturvereine und Ehrenamtlicher ab. Mitra Sabri, die als Ratsuchende zum JMD Gronau fand, erklärt, was das diesjährige IKW-Motto für sie bedeutet: „Wir brauchen Menschen, die uns die Chance geben, unsere Persönlichkeit zu entwickeln“, so die junge Afghanin. Nur gemeinsam mit anderen könne man wachsen. Seit acht Jahren lebt sie in Deutschland, gerade hat sie ihr Abitur abgeschlossen. Jetzt will sie weiterwachsen und ein Studium beginnen.
Wenn junge Menschen ihr Land verlassen (müssen):
Migration und Flucht in Theater, Ausstellung und Kino
Ein Kurzfilm von Jugendlichen aus dem JMD Cuxhaven thematisierte einen Monat lang im Kino die Erfahrungen und Perspektiven Geflüchteter. (Zum Video)
Ein Höhepunkt der Interkulturellen Woche in Cuxhaven war die mobile JMD-Ausstellung YOUNIWORTH. Nachdem die Ausstellung coronabedingt pausieren musste, war Cuxhaven Ende September der zweite Jugendmigrationsdienst, der die sieben interaktiven Stationen präsentierte. Eine Woche lang beschäftigten sich rund 200 Jugendliche im Forum der Berufsbildenden Schulen Cuxhaven mit den Themen Jugend und Migration, hinterfragten eigene Vorurteile und kamen bei Selfie-Aktionen und Mitmachspielen in Austausch miteinander. Für Sicherheit sorgte ein umfassendes Hygienekonzept.
Im Vorprogramm des örtlichen Kinos lief zudem den ganzen September über der Kurzfilm „Syrisches Tagebuch“, der einige Monate zuvor im JMD entstanden war. In dem Film erzählen Jugendliche von ihren Erlebnissen auf und vor der Flucht nach Deutschland und geben einen Eindruck davon, aus welchen Gründen sie ihr Land verlassen mussten.
Das Theaterstück „Zaun im Kopf“, das die JMD-Mitarbeiterinnen Dorota Mrusek und Vera Nickels für mehrere Schulvorstellungen in die Stadt holten, konfrontierte Schülerinnen und Schüler mit der Frage: Was wäre, wenn ich aus Deutschland fliehen müsste? In packenden 70 Minuten spielte das Ensemble Sonni Maier durch, wie ein Rechtsruck in Deutschland zwei Teenager vor existenzielle Probleme stellt. Im Nachgespräch gingen die Schauspielerinnen und Schauspieler unter anderem auf die aktuelle Lage der Menschen aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf Lesbos ein.
Fotos vermitteln Perspektiven junger Zugewanderter
Mit der Kamera unterwegs in der neuen Heimat: Kseniia Gek, Anwar Almoubayed und Maryam Khawari machen mit ihren Fotografien das Besondere im Gewöhnlichen sichtbar. (Bild: JMD Germersheim)
Neben ernsten Themen nahm das Programm der JMD auch positive Perspektiven in den Blick. Ein Anliegen der Nachwuchsfotografin Kseniia Gek ist es, das Schöne im Alltag zu entdecken. Die junge Russin kam vor zwei Jahren nach Deutschland und fotografiert leidenschaftlich gerne, am liebsten aus ungewöhnlichen Blickwinkeln. Sie gehört zu den Teilnehmenden eines Fotoprojekts, das Joachim Petermann vom JMD Germersheim bereits 2019 initiierte. Mit dem Smartphone ziehen junge Leute wie Kseniia durch ihre neue Heimat und widmen sich selbstgewählten Themen: von der Schönheit vor der eigenen Haustür über Armut bis hin zur Magie der blauen Stunde. Zur diesjährigen Interkulturellen Woche zeigte eine Ausstellung ausgewählte Bilder im Großformat und lud Besucherinnen und Besucher zum Austausch mit den jungen Talenten ein.
Mit einer Kombination aus Fotos und Texten machte der JMD Steinfurt auf die Situation junger Geflüchteter aufmerksam. In der Ausstellung „Mittendrin“ berichteten diese über ihre Erfahrungen, Wünsche und Träume. Das vom JMD organisierte Theaterstück „Afrika: Bilder, Geschichten und Stereotype“ richtete sich speziell an Schülerinnen und Schüler. Angeregt durch die Schauspielerin Gifty Wiafe (Ghana/D) und den Schauspieler Emmanuel Edoror (Nigeria/D) setzten sie sich mit Rassismus, Vorurteilen und der europäischen Kolonialgeschichte auseinander.
Mit Fotoporträts und persönlichen Texten machten junge Geflüchtete bei einer Ausstellung des JMD Steinfurt auf ihre Erfahrungen aufmerksam. (Bild: JMD Steinfurt)
Vermitteln, was Fachkräfte und junge Menschen in der Pandemie bewegt
Auch Infostände und Netzwerktreffen konnten an einigen Standorten erfolgreich stattfinden. So weckte der JMD Westerburg die Neugier der Wochenmarktbesucherinnen und -besucher mit einem bunten Glücksrad, verbunden mit einem interkulturellen Quiz. Wo Veranstaltungen nicht wie geplant durchgeführt werden konnten, ließen sich Jugendmigrationsdienste wie der JMD Lübben etwas Neues einfallen. In einer Printbroschüre trugen haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende der Migrationsfachdienste (DW Lübben) persönliche Erfahrungsberichte aus der Coronazeit zusammen. Sie lenken den Blick auf die Herausforderungen für junge Zugewanderte und die Beratungspraxis in der Pandemie – aus Sicht der Mitarbeitenden eine Zeit „zwischen Stillstand und Chaos“, in der Ausbildungsplätze für die jungen Klienten und Klientinnen kaum zu finden sind und Distanz und Masken die Verständigung erschweren. An das vielfältige Programm, das der JMD gewöhnlich auf die Beine stellt, erinnern eingestreute Rezepte und Gedichte.
Wie viele andere JMD hofft auch Lübben darauf, nächstes Jahr wieder mit einem Programm aus persönlichen Begegnungen und Aktivitäten teilnehmen zu können. Trotzdem ist es den JMD gelungen, auch unter Einschränkungen die Interkulturelle Woche 2020 zu einem lebendigen Ereignis zu machen.
Über die Interkulturelle Woche
Die bundesweit jährlich stattfindende Interkulturelle Woche (IKW) ist eine Initiative der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Griechisch-Orthodoxen Metropolie. Sie findet seit 1975 Ende September statt und wird von Kirchen, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften, Integrationsbeiräten und -beauftragten, Migrantenorganisationen, Religionsgemeinschaften und Initiativgruppen unterstützt und mitgetragen. Das Motto für 2020 lautete „Zusammen leben, zusammen wachsen“.
Mehr unter www.interkulturellewoche.de
Text: Servicebüro Jugendmigrationsdienste